Linie
In diesem Kapitel schauen wir uns an, was Mathematiker unter einer Linie verstehen.
Erforderliches Vorwissen
Vom Punkt zur Linie
Das Grundelement der Geometrie ist der Punkt. Wir wissen bereits:
Ein Punkt repräsentiert eine exakte Position.
Stell dir vor, du bist gerade in der Apotheke (Punkt $A$
), um für deine Oma ein paar Medikamente abzuholen. Plötzlich ruft deine Mutter an. Sie bittet dich, auf dem Weg nach Hause noch ein paar Brötchen beim Bäcker (Punkt $B$
) mitzunehmen. Damit deine Mutter weiß, wo du dich gerade so herumtreibst, hat sie heimlich auf deinem Smartphone eine App installiert, die es ihr ermöglicht, deine Positionsveränderungen mitzuverfolgen. Vorsicht: BIG MAMA IS WATCHING YOU!
Positionsübermittlung alle 30 Sekunden
Die kostenlose Version der App übermittelt deine aktuelle Position alle 30 Sekunden. Die blauen Punkte (deine Position im Zeitablauf) verraten deiner Mutter, ob du direkt zum Bäcker gegangen bist oder erst noch bei deiner besten Freundin vorbeigeschaut hast.
Positionsübermittlung alle 15 Sekunden
Für eine einmalige Zahlung von 2,99 € werden die Positionsdaten doppelt so oft übermittelt. Deine Mutter kann sich dadurch ein noch besseres Bild von deiner Bewegung machen.
Positionsübermittlung in Echtzeit
Die vom Verband für Helikopter-Eltern geforderte Echtzeitüberwachung kam kürzlich als Abo-Version auf den Markt. Für nur 4,99 € pro Monat weiß deine Mutter immer, wo du dich gerade aufhälst. Besser geht es nicht!
Das obige Horrorszenario sollte dir zeigen, was eine Linie in der Mathematik darstellt:
Eine Linie repräsentiert einen Weg.
Wenn wir Normalbürger von einem Weg sprechen, dann stellen sich dem Mathematiker von nebenan die Nackenhaare auf. Für ihn ist jede Linie nämlich eine unendliche Punktmenge.
Jede Linie ist eine unendliche Punktmenge.
Diese Betrachtungsweise ist nachvollziehbar, wenn wir uns klarmachen, wie eine Linie entsteht.
Zurück zum Horrorszenario: Deine Mutter kann in Echtzeit mitverfolgen, wie du von der Apotheke zum Bäcker gehst.
Der blaue Punkt ist deine aktuelle Position. Die Linie, die durch die Bewegung des Punktes entsteht, ist nichts anderes als die Menge aller Positionen (Punkte), die du auf deinem Weg zum Bäcker abgelaufen bist. Logisch, oder?
Wir merken uns:
Eine Linie entsteht durch die Bewegung eines Punktes.
Dass eine Linie eine Punktmenge ist, leuchtet ein. Aber wieso ist diese Menge unendlich groß?
Sich Unendlichkeit vorzustellen, ist für unser Gehirn eine schwere Aufgabe. Wir versuchen es trotzdem mal: Gegeben sind zwei Punkte ($P_1$
und $P_2$
), die in einer bestimmten Entfernung voneinander liegen. In der Mitte von $P_1$
und $P_2$
liegt $P_3$
, in der Mitte von $P_1$
und $P_3$
liegt $P_4$
und in der Mitte von $P_1$
und $P_4$
liegt $P_5$
. Wenn wir unsere Abbildung vergrößern, dann können wir dieses Spiel immer so weitertreiben. Wir stellen fest: Zwischen zwei beliebigen Punkten liegen unendlich viele andere Punkte.
Bislang haben wir gelernt, dass eine Linie durch die Bewegung eines Punktes entsteht, eine unendliche Punktmenge ist und einen Weg repräsentiert. Eine wichtige Sache fehlt noch:
Eine Linie hat eine Ausdehnung (Dimension).
Was bedeutet das? Ganz einfach: Eine Linie hat zwar eine Länge, aber weder Breite noch Höhe.
Bildliche Darstellung von Linien
Von der Vorstellung, dass eine Linie nichts anderes ist als ein Strich auf dem Papier, darfst du dich verabschieden. Ein Strich hat nämlich im Gegensatz zu einer mathematischen Linie sehr wohl eine Breite. Genau genommen könnte eine Linie – ebenso wie ein Punkt – nicht gezeichnet werden. Die Darstellung als Strich ist lediglich ein Hilfskonstrukt zur Veranschaulichung.
Bezeichnung von Linien
Um eine bestimmte Linie ansprechen zu können, müssen wir ihr einen Spitznamen geben. Das ist vor allem dann wichtig, wenn in einer Abbildung mehrere Linien eingezeichnet sind.
Linien werden gewöhnlich mit lateinischen Kleinbuchstaben ($a$
, $b$
, $c$
…) bezeichnet.
Lagebeziehung Punkt-Linie
Mathematiker untersuchen häufig, wie Punkte (Positionen) und Linien (Wege) zueinander liegen. Es sind zwei Fälle denkbar: Der Punkt liegt auf der Linie oder der Punkt liegt nicht auf der Linie.
In den folgenden beiden Abbildungen ist ein Teil meines alten Schulwegs ($g$
) dargestellt.
Erkennst du, ob die Apotheke ($A$
) oder der Bäcker ($B$
) auf meinem Weg zur Schule liegt?
Punkt liegt auf Linie
Die Apotheke liegt auf meinem Schulweg.
Mathematische Schreibweise
$A \in g$
Mathematische Sprechweise
A ist Element von g
A liegt auf g
Punkt liegt nicht auf Linie
Der Bäcker liegt nicht auf meinem Schulweg.
Mathematische Schreibweise
$B \notin g$
Mathematische Sprechweise
B ist nicht Element von g
B liegt nicht auf g
Warum ein Punkt ein Element der Linie ist
Eine Linie ist eine Punktmenge und aus der Mengenlehre wissen wir, dass die Objekte, die zu einer Menge gehören, die Elemente der Menge genannt werden.
Arten von Linien
Im Wesentlichen können wir zwei Arten von Linien unterscheiden:
Gerade Linien (Geraden)
Eine gerade Linie entsteht durch Bewegung eines Punktes in gleichbleibender Richtung.
Krumme Linien (Kurven)
Eine krumme Linie entsteht durch Bewegung eines Punktes in stetig wechselnder Richtung.
Darüber hinaus gibt es noch Mischformen dieser beiden Arten, die aber aufgrund ihrer nicht vorhandenen Bedeutung in deutschen Lehrplänen hier nicht näher betrachtet werden.
Gerade Linien
Der Laie sieht auf den folgenden drei Abbildungen einfach gerade Linien
. Der mathematisch Erfahrene hingegen unterscheidet gerade Linien nach der Anzahl ihrer Begrenzungspunkte.
= gerade Linie ohne Begrenzungspunkte
= gerade Linie mit einem Begrenzungspunkt
= gerade Linie mit zwei Begrenzungspunkten